Angioödem

Zuletzt geändert von Thomas Brinkmeier am 2022/06/20 21:09

Angioödem

Syn: Angioneurotisches Ödem, Quincke-Ödem

Note: Diese Synonyme werden allgemein für Angioödeme benutzt, also auch für allergisch bedingte im Rahmen einer Urtikaria.

Def: lokalisiertes und selbstlimitiertes Ödem des subkutanen und submukosalen Gewebes infolge einer temporären Erhöhung der vaskulären Permeabilität aufgrund der Freisetzung vasoaktiver Mediatoren

Histr: - Erstbeschreibung durch den Kieler Internisten Heinrich Irenaeus Quincke (1842-1922) im Jahre 1882

- 1963 beschrieben Donaldson und Evans den C1-INH-Mangel als ursächlich für das hereditäre Angioödem.

Ät: - C1-Inhibitor-Defizienz

Allg: C1-INH hemmt das Komplement-, Gerinnungs-, Kallikrein/Kinin- und Fibrinolysesystem

PPh: Ein quantitativer oder funktioneller Mangel an C1-INH führt zu verstärkter Bradykinin-Bildung, die im Wesentlichen die Ödembildung induziert.

Note: Inhibitoren von Bradykinin sind Exopeptidasen, insbes. die Plasmacarboxypeptidase N (pCPN) und das Angiotensin-converting-Enzym (ACE). ACE-Hemmer können so über eine Akkumulation von Bradykinin zur Quincke-Symptomatik führen. Entsprechendes gilt auch für Angiotensin-II-Antagonisten.

- Faktor XII-Mutation

- Angiopoietin-1-Mutation (ANGPT1)

Lit: J Allergy Clin Immunol. 2017 Jun 8. pii: S0091-6749(17)30921-1. http://doi.org/10.1016/j.jaci.2017.05.020

- Urtikaria-assoziiertes Angioödem

PPh: Hauptmediator ist Histamin

Lok: - meist Gesichtsbereich, v. a. Augenlider

- keine Beteiligung des GI-Trakts

Vork: sehr viel häufiger als das Angioödem bei C1-INH-Defizienz

Hi: Ödem der Subkutis

Etlg: Für das Angioödem bei C1-Esterase-Inhibitor-Defizienz werden 2 Typen unterschieden:

- kongenital/hereditär (Typ 1)

Vork: - 85% d. F.

- Prävalenz von etwa 1:50.000

- in Deutschland ca. 500 Fälle bei vermutlich erheblicher Dunkelziffer

Man: - zwei Häufigkeitsgipfel der Erstmanifestation: zwischen dem 10. und 20. sowie zwischen dem 20. und 30. Lj.

- durchschnittlich drei Anfälle pro Jahr beim Betroffenen

Def: autosomal-dominante Synthesestörung des C1-Esterase-Inhibitors

Gen: Jeder Pat. ist für die C1-INH-Defizienz heterozygot und besitzt ein normales und ein defektes Gen des C1-INH (SERPING1-GEN) auf dem langen Arm des Chromosoms 11.

TF: Tamoxifen

Lit: J Eur Acad Dermatol Venereol. 2016 Nov 23. http://doi.org/10.1111/jdv.14056 (Mainz)

Etlg: - Typ I

Vork: ca. 80% d. F.

Gen: 1 normales und 1 Nullallel

Urs: Deletion oder fehlende Expression eines abnormalen Allels

Lab: erniedrigte Plasmaspiegel des funktionell intakten C1-Inhibitors

- Typ II

Vork: ca. 20% d. F.

Gen: 1 normales und 1 abnormales Allel

Urs: Punktmutation im C1-INH-Gen

Folg: Expression des funktionell defekten Gens

Lab: verminderte Serumkonzentration des funktionell intakten C1-INH, aber normale bis erhöhte Konzentration eines dysfunktionellen C1-INH

Prog: Letalität von ca. 30% bei Nichterkennung und -behandlung

Urs: Erstickung infolge des Larynxödems

- Typ III

Vork: extrem selten

Gen: gelegentlicher Nachweis einer Mutation des Faktors XII (Hageman-Faktor)

Ät: weitgehend unbekannt

Pg: relevant sollen hohe Östrogenspiegel in der Schwangerschaft oder orale Kontrazeptiva sein

- erworben (Typ 2)

Vork: - 15% d. F.

- Erstmanifestation i. d. R. im Erwachsenenalter

Etlg: - Typ I

Vork: häufiger als Typ II

Ät: B-Lymphozytenfunktionsstörungen

Urs: lymphoproliferative Erkrankungen, maligne Lymphome u. a.

Pg: Bildung von antiidiotypischen Antikörpern, die zu einer erhöhten Aktivierung von C1 führen

Lab: Erniedrigung von C1

- Typ II

Def: Autoimmunkrankheit mit IgG- oder IgM-Bildung gegen den C1-INH

Pg: Hemmung der Bindung von C1-INH an C1

Lab: normale oder erhöhte Plasmaspiegel eines dysfunktionellen C1-INH

Ass: andere Autoimmunkrankheiten

So: Gleich-Syndrom

TF: z. B. hormonelle Besonderheiten, Insektenstiche, Medikamente (insbes. ACE-Hemmer und Antgiotensin-II-Antagonisten, Hormonpräparate), Nahrungs- und Genussmittel, psychischer Stress, Traumata, Vibration

Note: Das Risiko, nach dem Wechsel von einem Angioödem-auslösenden ACE-Hemmer auf einen Angiotensin-Rezeptor-Blocker erneut ein Angioödem zu entwickeln, liegt wahrscheinlich unter 10%.

Lit: Ann Allergy Asthma Immunol 2008; 101: 495-9

PT: MA

KL: - Ödeme der Haut (und ggf. Schleimhäute) bis zu 48 h persistierend, umschrieben, teigig, blass, meist solitär, ggf. aber auch multipel, charakteristischerweise ohne Juckreiz und Quaddeln

- fakultativ prämonitorische Exantheme, die makulös, gyriert, anulär-serpiginös oder kokardenartig auftreten können

- rezidivierende abdominelle Schmerzen

Lok: Prädilektionsstelle: Extremitäten, Gesicht, Stamm

Note: bei Männern rel. häufig auch das äußere Genitale, etwas seltener aber auch bei Frauen

TF: lokale Traumen wie längeres Radfahren, Reiten, Geburtsvorgang

SS: In der Schwangerschaft (bes. 3. Trimenon) zeigt sich dagegen oftmals eine Besserung der Symptomatik.

Hyp: - hormonelle Umstellung

- diaplazentare fetomaternale Übertragung von C1-INH

Kopl: - Larynxödem

Man: i.d.R. über längere Zeit bis Stunden (i. G. zum schnell progressiven Larynxödem nach z. B. Insektenstichen)

DD: Reinke-Ödem

Pa: Ödem der vorderen zwei Drittel der Stimmlippen mit Polypen, grauer Verfärbung und Verdickung

Ät: Allergien, Nikotinabusus, stimmliche Überlastung

Kopl: i. G. zum Quincke-Ödem führt das Reinke-Ödem nie zur Erstickung

- GI-Symptome

KL: Dysphagie, Globusgefühl, Nausea, Emesis, Diarrhoe, Bauchschmerzen

Vork: ca. 70% d. F.

Note: charakteristisch und wichtig in der differentialdiagnostischen Abgrenzung zum akuten Abdomen sind insbes. abdominelle Schmerzattacken

- ZNS-Symptome

KL: Kopfschmerzen, Bewusstseinstrübung, Schwindel, Lähmungen

Note: Wahrscheinlich keine Blutungs- oder Thromboseneigung trotz Interaktion des C1-INH mit dem Fibrinolyse-/Gerinnungssystem.

Di: - Plasmaspiegel von C3 und C4

Erg: Normales C3 bei stark erniedrigtem C4 (und C2) ist der typische Befund, dem eine immunologische und funktionelle Bestimmung des C1-Esterase-Inhibitors folgen sollte

CV: In Ausnahmefällen kann eine C4-Erniedrigung nur im Anfall nachgewiesen werden.

Verl: Zur Verlaufskontrolle reichen C3- und C4-Bestimmungen

- C1-INH-Konzentration und C1-INH-Aktivität

- Messung des C1r-Verbrauchs

Bed: Bestimmung der C1-INH-Funktion

Meth: Messung der Komplexbildung zwischen C1r und C1-INH (Angaben in Prozent)

- C1q

Erg: erniedrigte Werte nur bei erworbenen Fällen des Angioödems (C1q-Ak), nicht bei hereditären

Folg: gründliche Durchuntersuchung des Pat. hinsichtlich maligner Lymphome, Paraproteinämien etc.

- CH50

- C1-INH-Ak

DD: - Urtikaria

- allergische Reaktion

- Melkersson-Rosenthal-Syndrom (MRS)

- Morbus Morbihan (Rosazea)

- SLE

- Neoplasien

- rezidivierendes Angioödem mit Blut- und Gewebseosinophilie

- eosinophile Fasziitis

CV: auch mit Eosinophilie

- H-Ketten-Krankheit

KL: insbes. Uvulaödem und Schwellung im Bereich des weichen Gaumens

- akutes Abdomen bei GI-Symptomatik

CV: Klinisches Leitkriterium ist beim hereditären Angioödem geradezu das Nichtansprechen auf klassische antiallergische Therapie. Vermeintliche Effekte sind auf den selbstlimitierenden Charakter des Angioödems zurückzuführen.

Th: - bei unklarer Ätiopathogenese des Angioödems (Histamin- oder Bradykinin-vermittelt):

Stoff: - Antihistaminika

Ind: - Akut- bzw. Notfall

- im Intervall zur Rezidivprophylaxe

- Prednisolon

Ind: Akut- bzw. Notfall

Dos: 250-500 mg i.v.

- Adrenalin

Ind: Akut- bzw. Notfall

Appl: Injektion oder Dosieraerosol

- Icatibant

Def: Bradykinin-B2-Rezeptorantagonist

Phar: Bitte registrieren / anmelden

Ind: Akut- bzw. Notfallbehandlung (für Erwachsene auch zur Selbstbehandlung) bei hereditärem Angioödem (für Kinder ab 2 Jahren zugelassen)

Dos: 30 mg (Erwachsene)

Appl: s.c.

- Omalizumab

Th: J Dtsch Dermatol Ges. 2013 Jul;11(7):676-8. http://doi.org/10.1111/ddg.12075, suppl. (Hamburg)

- Ketotifen

Lit: Clin Exp Dermatol. 2013 Mar;38(2):151-3. http://doi.org/10.1111/j.1365-2230.2012.04430.x

PT: CR (Vibrations-getriggertes Angioödem mit Versagen von Omalizumab)

- bei bekanntem C1-INH-Mangel oder Versagen der o. g. Therapie

Stoff: - C1-Inhibitor-Konzentrat

Bed: GS bei bekanntem C1-INH-Mangel

Ind: - im Akutfall / Notfall

Phar: Bitte registrieren / anmelden

- Kurzzeitprophylaxe vor operativen Eingriffen (insbes. im HNO-Bereich) und vor Intubationsnarkosen

Phar: Bitte registrieren / anmelden

Altn: Kombinationsgabe von Tranexamsäure (1-1,5 g/Tag) und Danazol (600 mg/Tag) ca. 5 Tage präoperativ und ggf. weiter bis zu 3 Tage postoperativ

- Langzeitprophylaxe (im Intervall zur Langzeitsubstitution)

Phar: Bitte registrieren / anmelden

Eig: - klinische Besserung ca. 20-30 min nach i.v.-Infusion bei Schleimhautödemen des Respirations- und GI-Trakts

- HWZ = 72 h

Lab: Kontrolle des C4-Spiegels (soll ansteigen)

Pos: offenbar keine Bildung von C1-INH-Alloantikörpern

Altn: - Frischplasma oder Gefrierplasma (FFP = "fresh frozen plasma")

Vor: - Blutgruppenkompatibilität

- erfolgte Testung auf Virussicherheit

Pos: - heutzutage vernachlässigbares Infektionsrisiko

- Gabe war in der Praxis bisher vielfach lebensrettend

Neg: theoretische Gefahr der Verschlechterung der Symptomatik, da nicht nur C1-INH, sondern Komplementfaktoren zugeführt werden

- lyophilisiertes gerinnungsaktives Humanplasma

Note: Blutgruppenkompatibilität ist keine Voraussetzung.

- rekombinanter humaner C1-Inhibitor (rhC1INH)

Phar: Bitte registrieren / anmelden

- Hemmung von Plasma-Kallikrein

Stoff: - Lanadelumab

Appl: s.c.

Phar: Bitte registrieren / anmelden

- Berotralstat

Appl: p.o.

Phar: Bitte registrieren / anmelden

- Danazol

Phar: Bitte registrieren / anmelden

Def: attenuiertes Androgen

Wirk: Stimulation der Synthese des C1-INH in der Leber

Folg: therapeutischer Effekt erst nach einigen Tagen

Ind: Langzeitprophylaxe im Intervall bei männlichen Pat., wenn eine i.v.-Applikation abgelehnt wird oder unmöglich ist

Bed: Intervalltherapeutikum mit deutlicher Reduktion der Anfallshäufigkeit und Letalität; weitgehend obsolet und nur über internationale Apotheken erhältlich

NW: anabol, antiöstrogen, antigestagen, antigonadotrop

Note: unerwünschte Wirkungen i.d.R. aber eher geringgradig ausgeprägt

CV: wegen gelegentlicher irreversibler Senkung der Stimmlage vorher HNO-Konsil

Dos: Kps. von 50, 100 und 200 mg

Wirk: - Synthesesteigerung des C1-Inhibitors

Hyp: Bindung an Steroidrezeptoren der Leberzelle

- sowohl bei quantitativen als auch funktionellen C1-INH-Defekten

Neg: V. a. schlechte Wirksamkeit bei dem Autoantikörper-bedingten Typ (II) des erworbenen Angioödems

Lab: messbare Erhöhung des C1-INH (quantitativ und funktionell) und des C4 nach mehrmonatiger Behandlung; ferner ist die Bestimmung des C1r-Verbrauchs sinnvoll

CV: Kontrazeption von gebärfähigen Frauen unter Danazol-Therapie

Meth: Östrogenhaltige Kontrazeptiva sind kontraindiziert; Zurückgreifen auf z. B. die intrauterine Spirale

- Tranexamsäure

Phar: Bitte registrieren / anmelden

Def: Antifibrinolytikum

Ind: - Langzeitprophylaxe

- insbes. ggf. noch bei Kindern (als Alternative zu attenuierten Androgenen)

Dos: 500 bis 1000 mg

NW: Thrombosen

- Ecallantid (DX-88)

Def: Plasma-Kallikrein-Inhibitor

Bed: nicht zugelassen in der EU

Ind: Akutfall / Notfall

Dos: 30 mg s.c.

Lit: J Allergy Clin Immunol. 2011 Jul;128(1):153-159

PT: RCT

- Intubation und Tracheotomie als Ultima Ratio

- hämatopoetische Stammzell-Transplantation

Lit: J Allergy Clin Immunol. 2013 Sep 11. pii: S0091-6749(13)01193-7. http://doi.org/10.1016/j.jaci.2013.07.035 (UK)

Ind: C1q-Defizienz

Prop: - Notfallset und -pass

Note: - Bei fehlender quantitativer oder funktioneller C1-INH-Defizienz besteht die Notfall-medikation z. B. aus Celestamine N liquidum®, Fenistil-Trpf.® und Fastjekt®.

- Sinnvoll ist bei bekanntem C1-INH-Mangel das ständige Mitführen von 1-3 Ampullen C1-INH-Konzentrat und bei drohender Symptomatik die umgehende Konsultation eines Arztes unter Vorlage eines Nothilfepasses.

- Dauermedikation im Intervall (s. oben)

- perioperative Medikation (s. oben)

- familiengenetische Erhebungen zur Diagnostik bisher asymptomatischer Blutsverwandter mit hereditärem Angioödem

Zus: Klinische Hinweise auf eine C1-INH-Defizienz bei Angioödemen sind Familiarität, Erstmanifestation in den ersten beiden Lebensjahrzehnten, Lokalisation nicht nur im Gesicht, sondern auch insbes. an den Extremitäten, fehlender Juckreiz und fehlende Quaddelbildung, rezidivierende abdominelle Schmerzattacken. Beweisend sind dazu kongruente Laborbefunde.

  

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